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Gleichstellung in Europa für alle möglich? – Ziele und Herausforderungen für die EU

Es geht langsam auf den Winter zu, die Corona-Fallzahlen steigen an und die Maßnahmen werden verschärft. Die Einschnitte im Alltag sind für viele Menschen tief und die Ungleichheiten innerhalb der Gesellschaft spürbar. Die Deutsche EU-Ratspräsidentschaft möchte sich in dieser Zeit verstärkt für ein gerechtes Europa einsetzen, das sich neben Digitalisierung, Nachhaltigkeit, sozialer Gerechtigkeit, Beteiligung junger Menschen sowie Einbindung von Menschen mit Behinderung auch die Gleichstellung der Geschlechter auf die Fahnen schreibt. 

Gleichstellungspolitiken in der JEF

Als Junge Europäische Föderalist*innen Niedersachsen sehen wir uns seit Jahren als feministischen Jugendverband, der weibliche und diverse Perspektiven auf Europapolitik mitdenkt und nach außen hin vertritt. Wir wollen als Verband eine zunehmende Sensibilität für geschlechterspezifische Ungleichheiten entwickeln und uns für eine chancengleiche Gesellschaft einsetzen. Auf Landesebene haben wir kürzlich ein Hate Speech-Seminar mit Fokus auf Sexismus – auch und besonders in politischen Organisationen – angeboten, auf Bundesebene hat sich das Bundesprojekt dem Thema Empowerment und Diversity angenommen und auch andere JEF-Sektionen integrieren Geschlechterfragen als festen Bestandteil in ihre politische Arbeit.

Auswirkungen der Pandemie auf die Chancengleichheit

Die Deutsche Ratspräsidentschaft setzt sich in ihrem Programm zum Ziel, die Arbeitsbedingungen für EU-Bürger*innen zu verbessern und nationale Mindestlöhne innerhalb eines EU-Rahmens einzuführen, um sichere Einkommen zu gewährleisten. Besonders die, überwiegend von Frauen ausgeübten, sozialen Berufe wie die Sorgearbeit, deren Systemrelevanz sich in der aktuellen Corona-Krise deutlicher als je zuvor zeigt, werden niedrig entlohnt und bieten weniger Aufstiegschancen. Frauen sind in der Folge oft vom Einkommen ihres, meist männlichen, Partners abhängig und besonders alleinerziehende Frauen überdurchschnittlich oft von Armut betroffen. Daneben sind Frauen mehrheitlich für die unbezahlte Betreuung und Pflege von Kindern und Angehörigen verantwortlich und waren in den letzten Monaten während Schul- und Kita-Schließungen einer besonders starken Belastung ausgesetzt. Aber auch vor der COVID–19-Pandemie hatten viele mit einer Doppelbelastung zu kämpfen, da flexible Arbeitszeitmodelle und Ganztagsbetreuung für Kinder noch immer die Ausnahme sind.

Strategien für eine gleichberechtigte Teilhabe

Neben der Förderung der partner*innenschaftlichen Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern, wird eine Gleichstellung von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt durch Entgeltgleichheit sowie durch eigenständige Existenzsicherung von Frauen angestrebt. Netzwerke sollen den Austausch auf politischer sowie kultureller Ebene fördern und Frauen in ihren Unternehmungen stärken. Die Defizite in puncto Gleichstellung von Frauen und Männern in Spitzenpositionen zeigt sich vor allem ganz oben: lediglich acht Prozent “Womenpower” sind in den Vorständen der größten Unternehmen in der EU anzutreffen. Deutschland bekundet in seinem Ratspräsidentschaftsprogramm die Gleichstellungsstrategie, welche auf schnelle Fortschritte in der Geschlechtergerechtigkeit drängt und auch Entgelttransparenz fordert.

Multiperspektivität

Zudem ist der Europäischen Kommission die geschlechtsspezifische Dimension anderer gesellschaftlicher Herausforderungen, wie den Folgen des Klima- und digitalen Wandels, bewusst und möchte auch hier Maßnahmen ergreifen. „In der Wirtschaft, in der Politik und in der Gesellschaft als Ganzes können wir unser volles Potenzial nur entfalten, wenn wir unsere Kompetenzen und Vielfalt vollumfänglich zum Einsatz bringen“ erklärte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in einer Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom März 2020. Die Gleichstellung der Geschlechter soll darüber hinaus nicht nur in Europa, sondern weltweit angestrebt werden.

Der große Rückschlag: Zunehmende Akzeptanz von geschlechtsspezifischer Gewalt und die Gegenmaßnahmen

Der Einsatz für eine Ratifikation der Istanbul-Konvention des Europarats durch die EU und die Mitgliedstaaten zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt ist so bedeutsam, da in den letzten Jahren immer wieder rückschrittliche Tendenzen im Hinblick auf Frauen- und Minderheitenrechte in einigen EU-Staaten zu verzeichnen sind. 

Der Eingriff in die Wissenschaft durch die Streichung von Fördermitteln für den Fachbereich Gender Studies bis hin zur Schließung von fachnahen Instituten oder die Blockierung von rechtlicher Gleichstellung nicht-heterosexueller Paare durch das Festhalten an der Definition der Ehe als Verbindung zwischen Frau und Mann sind hier nur einige Beispiele. Die Weigerung, einen modernen, allumfassenden Sexualkundeunterricht in der Schule einzuführen sowie, ganz aktuell in Polen der Fall, die Verschärfung von Abtreibungsgesetzen, die Frauen dazu zwingen, das Kind gegen ihren Wunsch zu bekommen, illegal abzutreiben und sich dadurch einem hohen Gesundheitsrisiko auszusetzen, oder die Abtreibung im Ausland vorzunehmen, sind weitere Anzeichen einer reaktionären Politik.

Sowohl Kroatien als auch Polen haben schon länger Vorbehalte gegen die Istanbuler Konvention geäußert. Polen hat im Juli dieses Jahres angekündigt, sich aus dem Vertrag gänzlich zurückzuziehen. Bisher haben von den 45 Unterzeichnenden lediglich 34 Staaten das Übereinkommen ratifiziert. Von den EU-Staaten gehörten das Vereinigte Königreich, Liechtenstein, Lettland, Litauen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Bulgarien bisher nicht dazu.

Die aktuelle Einigung auf die Stärkung des Rechtsstaatsmechanismus sollen bald Mittelkürzungen gegen EU-Mitgliedsstaaten, die gegen Verträge und Grundsätze der Europäischen Union verstoßen, auch ohne einstimmigen Beschluss, ermöglichen. Die EU soll bei Verstößen schnell und wirksam eingreifen und Kürzungen von EU-Mitteln veranlassen können. So kann auch gegen die Einschränkungen von Frauen- und Minderheitenrechten vorgegangen werden, die bestenfalls dann wieder aufgehoben werden. Es wird sich zeigen, ob die EU konsequent Sanktionen gegen jene umsetzt, die die grundlegenden Freiheiten ihrer Bürger*innen beschneiden und Menschenrechte verletzen. 

Es ist an der Zeit, dass das Streben nach Chancengleichheit und die Gleichstellung der Geschlechter Konsens sowie Ziele in allen EU-Mitgliedsstaaten sind. Es ist an der Zeit, dass auch außereuropäisch aktiv für Frauen- und Minderheitenrechte eingetreten wird. Es ist an der Zeit, die verschiedenen Lebensrealitäten von Frauen und Minderheiten anzuerkennen und ihre jeweilige Situation zu verbessern. Die Freiheit der Einen darf nicht die Unterdrückung der Anderen bedeuten.

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