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Leitantrag: Europa steht unter Druck – Lass es uns neu beleben

1. Analyse zum Zustand der EU und Europa

Unser Startpunkt
Zuallererst müssen wir in aller Nüchternheit feststellen, dass das europäische Projekt das spannendste und zugleich elementarste politische Projekt unserer Lebenswelt ist. Zweifelsohne gingen und gehen damit unvorhergesehene Errungenschaften einher, die uns in einer Weise bereichern, die vor entstehen der Vergemeinschaftung undenkbar schienen. So vieles davon ist jedoch noch offen und das ist auch der Grund, wieso wir als pro-europäische Jugend dazu herausgefordert sind, an diesem offenen Prozess zu partizipieren und Europa mit zu gestalten. Wir sind uns sicher, dass unser materielles wie ideelles Glück maßgeblich vom Gelingen des europäischen Projekts abhängt. Auch wenn es an dieser Stelle pathetisch klingen mag, so ist dies nichts weiter als eine realistische Einschätzung dessen, was wir schon heute mit relativer Sicherheit voraussagen können.

Die Ausgangslage dafür ist jedoch alles andere als günstig. Die Europäische Union stolpert von einer Krise in die nächste und das einzige Lösungskonzept, das uns auf diesem Stolperpfad begegnet, ist reine Schadensbegrenzung, die lediglich den Status Quo manifestiert. Es ist beunruhigend mit ansehen zu müssen, wie die EU jedes mal nur knapp davor bewahrt werden kann, vollends zu kollabieren. Wir vermissen den Eindruck, dass die Verantwortlichen die wahren Ursachen der Krise erkennen und einen mutigen wie reflektierten Ausweg dieser aufzeigen. Vielmehr macht sich der Eindruck breit, dass die Bürger*innen Europas durch die kurzfristige Krisen-Verwaltung vergessen haben, was das eigentliche Ziel des Europäischen Projekts ist.

Unvergessen bleibt der Ausruf, dass die EU „[…] das größte und erfolgreichste Friedensprojekt“ sei (Barroso bei der Verleihung des Friedensnobelpreises). Doch immer wieder offenbart sich, dass dieser eingängige Satz mit seiner eigentlichen Intention in eine oberflächliche und zu kurz gegriffene Interpretation entrückt wird. So bedeutet Frieden nicht nur die Abwesenheit von Krieg, sondern auch, dass ebenfalls ein sozialer Frieden vorherrschend ist. So ist beispielsweise zumindest schon einmal die grassierend hohe Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa ein Indikator dafür, dass sozialer Frieden in Teilen Europas fehlt. Zur Eingrenzung des Friedensversprechen durch die EU kommt aber noch der Zusatz, dass Frieden – und das darf nicht vergessen werden – in erster Linie durch die Überwindung des Nationalismus erreicht werden soll. Die Gründung der europäischen Gemeinschaft resultierte maßgeblich aus den Erfahrungen der Weltkriege sowie den größten Menschheitsverbrechen, die durch einen Profit maximierenden Nationalismus befördert wurden. Und da die Gründergeneration Zeuge davon war, wie dieser Kontinent vor ihren Augen in Trümmern lag, ist dieses Friedensprojekt der EU keines, das zwischen Nationalstaaten funktionieren soll, sondern bewusst eines zu ihrer Überwindung.

Im Widerspruch zwischen nationalem Egoismus und Gemeinschaftspolitik
Wir beobachten aktuell das Phänomen, dass die Menschen den Eindruck haben, dass die nationalen Demokratien nicht mehr richtig funktionieren. Damit geht ein Vertrauensverlust in die westliche liberale Demokratie einher und die Wähler*innen neigen eher dazu, Parteien am politischen Rand ihre Stimme zu geben. Politiker*innen der Mitte bzw. der Volksparteien haben stets mit dem Leitbild des nationalen Wohles um ihre Wähler*innenstimmen geworben. Die Einschätzung, dass nationalstaatliche Politik nicht mehr richtig funktionieren würde, bestätigt sich zumindest anhand der Probleme und Herausforderungen, die sich eben nicht mehr nationalstaatlich lösen lassen – wie z.B. die Klimakatastrophe, die Flüchtlings- und Migrationsbewegungen sowie die Verteilungsungerechtigkeit zwischen Globalisierungsgewinner* innen und -verlierer*innen. Die Wähler*innen leiten hieraus den falschen Schluss ab, indem sie ihrer Sehnsucht nach konsequenteren Führungsfiguren nachgeben, die versprechen, die „nationalen Interessen“ besser durchsetzen zu können, weil sie dem Irrtum der nationalstaatlichen Lösungen unterliegen.

Und so finden wir uns in dem Widerspruch wieder, dass Staats- und Regierungschef*innen auf der einen Seite durch ihre Bevölkerung für eine konsequentere Durchsetzung der nationalen Interessen demokratisch legitimiert werden und auf der anderen Seite Gemeinschaftspolitik im europäischen Gefüge machen sollen. Solange also nationale Egoismen und europäische Gemeinschaftspolitik sich in der aktuellen Lage diametral gegenüberstehen und wir diesem Zustand verhaftet bleiben, werden sich die Krisensymptome nur verschärfen. Der oben beschriebene Status Quo kann sich in dieser Lage also nicht auflösen, sondern verharrt in der Manifestation, da die Verantwortlichen alle nationale Karrieren hinter sich haben und auch durch ihre politische Verantwortung auf nationaler Ebene ihre Stimme im Europäischen Rat erhalten haben. Dass sie also vorzugsweise politischen Profit entgegen der Gemeinschaft und für ihre eigene nationale Bevölkerung generieren, ist also nur reine Systemlogik, welche sich auch institutionell manifestiert: Der Europäische Rat, der eigentlich Impulse für die EU setzen soll, repräsentiert vielmehr durch das Festhalten an der Einstimmigkeit nationalstaatliche Interessen und blockiert progressive europäische Reformen und die Entwicklung einer europäischen Zivilgesellschaft. Eine Gegenstimme und ein wichtiges Projekt kommt nicht zustande. Dies führt de facto zu einer Blockade der EU durch die nationalen Staats- und Regierungschef*innen.

So lassen sich auch folgende Entwicklungen in Europa begründet darstellen: Viktor Orbán hat die Parlamentswahlen gewonnen und die verfassungsändernde 2/3 Mehrheit für seine Fidesz- Partei verteidigt. Die PiS regiert weiterhin in Polen. Die FPÖ ist mit Heinz-Christian Strache als Vizekanzler an der Regierung von Österreich beteiligt. Die Schwedendemokraten sind im Aufwind. In Deutschland konnte erstmals mit der AfD eine Partei rechts von der Union (sogar zweistellig) in den Bundestag einziehen und die Oppositionsführerschaft stellen. So konnte auch Marine le Pen in den zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen in Frankreich einziehen und dort 33,9% auf sich vereinigen.

Wir beobachten, dass sich osteuropäische Regierungen mit der PiS in Polen, Fidesz und Jobbik in Ungarn oder auch die liberalen Populisten mit Andrej Babis in Tschechien von der EU entfernen und damit das Europäische Gemeinschaftsprojekt gefährden.

Es fehlt eine starke europäische Erzählung
Die EU steht am Scheideweg und dieser Zwiespalt spiegelt sich in erster Linie in zwei Politikern wider: Emmanuel Macron und Viktor Orbán. Der eine möchte die Europäische Union fundamental stärken und der andere sie am liebsten gründlich zurecht stutzen. Dabei orientieren sie sich an den aktuellen Herausforderungen der Globalisierung. Nur mit dem Unterschied, dass Macron davon überzeugt ist, ausschließlich die EU sei im Stande diese Herausforderungen zu meistern. Dagegen glaubt Orbán, dass einzig der Nationalstaat dem gewachsen sei. Doch warum polarisieren diese zwei Wahlsieger so sehr?

Eine Antwort lässt sich darin finden, dass beide jeweils ein klares und deutliches Narrativ anbieten, das mit dem verkrusteten Status Quo bricht: mehr Europa, weniger Europa. Zugegebenermaßen erfinden sie an dieser Stelle das Rad nicht neu. Europa steht jedoch überall unter Druck, so dass diese zwei Szenarien sich regelrecht aufdrängen. Viele haben erkannt, ein Weiter so kann es in der aktuellen Lage nicht mehr geben und deswegen wird besonders deutlich, dass es den etablierten Parteifamilien an einer starken europäischen Erzählung fehlt. Vor diesem Hintergrund wird es unsere Aufgabe als Verband sein, lautstark in die Zivilgesellschaft hinein für ein starkes europäisches Narrativ zu werben, das wir gesamtgesellschaftlich entwickeln müssen. Die Zeichen der Zeit stehen gerade günstig, so dass wir diese Chance nicht unversucht lassen sollten!

Wahlsiege wie Wahlniederlagen lassen sich niemals monokausal erklären und müssen stets differenziert ausgewertet werden. Wir hoffen und wollen dafür werben, dass alle Parteien zumindest bei den Europawahlen im nächsten Jahr einen inhaltlichen Wahlkampf mit einem Schwerpunkt auf europäischen Themen führen und damit einen wichtigen Schritt zur Europäisierung der Europawahlen leisten.

Mit dieser Erkenntnis werden wir also nicht müde dabei, den Parteifamilien deutlich zu machen, dass ein Festhalten am Status Quo ausschließlich die europäischen Widersprüche intensiviert. Zusätzlich machen wir es uns zur Aufgabe, den Finger in die Wunde zu legen und – mit einer starken europäischen Erzählung im Gepäck – offen einzufordern, dass nun endlich die ausgestreckte Hand Macrons ergriffen werden sollte. Lasst uns gemeinsam für eine Wiedergeburt der europäischen Idee sorgen; verändern wir Europa, bevor es andere wie Viktor Orbán tun!

Vom machtlosen Debattierclub zum debattierenden Machtzentrum: Das Europäische Parlament
Im vergangenen Jahr feierten wir das 60-jährige Jubiläum der Römischen Verträge und damit zeitgleich das Bestehen des Europäischen Parlaments. Das Europäische Parlament hat sich dabei vor allem seit den achtziger Jahren kontinuierlich weitere Kompetenzen erstritten. Der größte Zuwachs an Einfluss kam jedoch erst 2009 mit Ratifizierung des Lissabonner Vertrags, der die Grundlage der Zusammenarbeit innerhalb der EU regelt. Martin Schulz konnte ab 2012 in seiner Funktion als Präsident des Europäischen Parlamentes noch mal einen wichtigen Beitrag zur fortschreitenden Demokratisierung der EU-Institutionen leisten. So konnte er sich z.B. damit durchsetzen, dass der Parlamentspräsident ebenfalls an den unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindenden EU-Gipfeln der Staats- und Regierungschef*innen teilnehmen darf sowie die Umsetzung des Spitzenkandidat*innen-Prinzips im Rahmen der Europawahlen 2014. Im Zentrum der Kompetenzen stehen dabei seitdem die gleichberechtigte Mitwirkung an Gesetzgebung und dem EU-Haushalt. Damit hat das Parlament einen deutlichen Wandel durchlebt und man kann davon sprechen, dass es vom machtlosen Debattierclub zum debattierenden Machtzentrum herangereift ist.

Trotzdem muss die Reputation des Europäischen Parlaments weiter gesteigert werden und sich vor allem auch in Bezug auf das fragmentierte und national unterschiedliche Wahlrecht reformieren. Das Parlament muss jedoch in erster Linie ein eigenes Initiativrecht für die EUGesetzgebung erhalten. Hinzu kommt, dass das Parlament nach wie vor kein eigenes Initiativrecht für die EU-Gesetzgebung hat. Wir sehen dadurch aber in erster Linie die Dringlichkeit, das Europäische Parlament mit weiteren Befugnissen auszustatten. Die Rolle des Parlaments in der EU muss gestärkt werden und die Wahl zum Europäischen Parlament weiter demokratisiert und europäisiert werden. Und genau deswegen kritisieren wir als Junge Europäische Föderalist*innen Niedersachsen auch die mehrheitliche Ablehnung des Europäischen Parlamentes zu der Einführung transnationaler Listen zutiefst. Insbesondere die Nein-Stimmen von u.a. Rainer Wieland als Vorsitzenden der Europa-Union Deutschlands und Elmar Brok, Ehrenvorsitzender der EUD und Vorsitzender der Union der Europäischen Föderalisten enttäuschen uns als Föderalist*innen im Besonderen. Es kann nicht sein, das wichtiges Führungspersonal der Europäischen Föderalist*innen eine Kernforderung unserer föderalistischen Organisationen in der politischen Realität ablehnt.

Die Besetzung der durch den Brexit wegfallenden Sitze im EU-Parlament u.a. durch transnationale Listen wäre gerade in diesen von Europaskepsis und dem Rechtspopulismus dominierten Zeiten eine Möglichkeit gewesen, die EU von ihrer Sklerose zu befreien und hätte einen entscheidenden Schritt in Richtung zu mehr Demokratie in der EU bedeutet.

Insgesamt zeigt sich, dass die EU und Europa in ihrem aktuellen Zustand unter starken Veränderungsdruck stehen und die Europäische Union sich neu erfinden muss, um überleben zu können. Der Nationalismus kann in diesem Zusammenhang einfach nicht liefern, was er verspricht. Je schneller wir uns das klar machen, desto besser. Wir befinden uns aktuell in einer Übergangsphase, mit allen Transformationskrisen, die es da eben geben kann. Die Nation funktioniert nicht mehr so richtig, die Europäische Union leider noch nicht. Sie steht zumindest im Widerspruch mit nationalen Egoismen und ist in genuinen Kompetenzen im Sinne einer demokratischen Verfassung stark beschränkt. Nun stellt sich also die Frage: Wenn etwas nicht mehr funktionieren kann, und etwas anderes noch nicht funktioniert – wofür sollte man sich da entscheiden, woran würde man arbeiten wollen?

Wir als JEF Niedersachsen haben darauf eine klare Antwort und die kann nur lauten, dass wir gemeinsam die Europäische Idee neu beleben wollen. Unsere Entscheidung entfällt somit auf ein starkes und souveränes Europa, an dem wir arbeiten wollen und wofür es sich zu streiten lohnt!

2. Lösungsansätze und Forderungen

Wir als JEF Niedersachsen erwarten also von der EU tiefgreifende Reformen, um Europa neu beleben zu können!

Dazu gehört das souveräne Europa. Im Zuge der Globalisierung kommen neue Probleme und damit Aufgaben auf die EU zu. Dabei sollte die Europäische Union in der Lage sein, selbst aktiv werden zu können, um sich aus der Blockadehaltung der Staats- und Regierungschef*innen zu befreien.

Daher fordern wir als JEF Niedersachsen:

  • Die Ausarbeitung einer europäischen Verfassung als Grundlage für einen föderalen europäischen Bundesstaat.
  • Zugunsten der Europäischen Demokratie müssen die nationalen Parteien ihre europäischen Parteienfamilien zu wahren transnationalen Parteien weiterentwickeln und eine starke Europäische Erzählung zur Wahl stellen.
  • Das Europäische Parlament muss dringend das Initiativrecht bekommen, um selbst Gesetze in die EU einbringen zu können. Dies würde dem Anspruch der einzigen von den EUBürger* innen direkt gewählten Institution gerecht werden und maßgeblich zur Stärkung von Demokratie in der EU beitragen.
  • Der Europäische Rat darf sich nicht weiter selbst im Weg stehen und wichtige Weichenstellungen der EU blockieren können, dazu muss das Konsensprinzip bei Entscheidungen dem Mehrheitsprinzip weichen.
  • Das Spitzenkandidat*innenprinzip steht in Frage. Daher fordern wir hiermit die Staats- und Regierungschef*innen dazu auf, dieses Prinzip zu fördern und nicht aufzuhalten sowie das Europäische Parlament dazu, den Mut zu besitzen, dieses Prinzip nicht mehr aus der Hand zu geben.
  • Es braucht dazu auch eine EU-Wahlrechtsreform, um die Europawahlen von der nationalen Basis zu lösen und der Supranationalität der EU gerecht zu werden. Dazu gehört auch weiterhin die Einführung transnationaler Listen.

Dazu hat Emmanuel Macron in seiner Sorbonne-Rede weitere wichtige Punkte formuliert, denen wir uns anschließen:

  • Die Einführung von weiteren sozialen Mindeststandards, europäische Mindeststeuersätze und europäische Mindestlöhne, um das Ungleichgewicht in der Vertiefung der europäischen Integration zwischen Ökonomie und Ökologie aufzuweichen
  • Mehr Austausch für Studierende, Schüler*innen und Azubis
  • Eine Europäische Asylbehörde, um damit effektive europäische Lösungen für eine humane und solidarische Asylpolitik zu finden
  • Ein Budget für die Eurozone und eine*n Eurozonen-Finanzminister*in
  • Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung
  • Zusammenarbeit bei der Digitalisierung

Dazu schließen wir uns auch folgenden Forderungen der JEF Deutschland an:

  • Eine*n Europaminister*in in der Bundesregierung
  • Mehr Eigenmittel und ein größerer Haushalt für die EU
  • Eine europäische Arbeitslosenversicherung
  • Die Weiterentwicklung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) zu einem Europäischen Währungsfonds
  • Die Erhöhung der Förderung von zivilgesellschaftlich organisierten Jugendverbänden und europäischer Jugendbildungsarbeit und passend dazu – wie von Macron gefordert – einen Haushalt für die Eurozone und eine*n Euro-Finanzminister*in.

All dies würde zu einem souveränen, handlungsfähigen und zukunftsfähigen Europa beitragen. Wenn die Nationalstaaten überwunden, die inneren Widersprüche aufgelöst sind und die EU handlungsfähiger sowie demokratischer ist, würden die EU-Bürger*innen wieder das Vertrauen in die europäische Demokratie zurückgewinnen. Der Sieg Emmanuel Macrons mit einer starken europäischen Erzählung bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich hat das unter Beweis gestellt. Lasst uns also Europa wieder neu beleben!

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