Am 3. August 2020 haben wir zusammen mit MdEP Viola von Cramon und Dušan Reljić über die aktuelle Lage und die Herausforderungen hinsichtlich der Beitrittsperspektiven des Westbalkans im Rahmen einer Online-Diskussion gesprochen, bei der auch unsere Teilnehmer*innen dazu eingeladen waren, Fragen zu stellen.
Montenegro verhandelt seit 2012 mit der EU, Serbien seit 2014. Die EU hat endlich im März die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien versichert, doch ein erstes Treffen ist noch nicht datiert. Der Kosovo wird von fünf Mitgliedsstaaten nicht als eigenständiger Staat anerkannt und die fragilen Verhältnisse in Bosnien-Herzegowina machen eine baldige EU-Mitgliedschaft unwahrscheinlich. Beim virtuellen Westbalkan-Gipfel im Mai wurde das Versprechen, die sechs Staaten in die EU aufzunehmen, erneuert. Demgegenüber konnten Frankreich, Dänemark und die Niederlande eine Reform des Beitrittsprozesses durchsetzen, die gegebenenfalls den Abbruch von Verhandlungen erleichtern soll.
Westbalkan als „Exporteur billiger Arbeitskräfte“
Viele Bürger*innen des Westbalkans sind proeuropäisch eingestellt und erhoffen sich von einer Aufnahme in die EU einen wirtschaftlichen Aufschwung und damit einhergehend eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse. Doch die Stimmung droht zu kippen. „Wenn es ein Wort gibt, das die Menschen im ehemaligen Jugoslawien nicht hören können, dann ist es Beitrittsperspektive“, erklärt Reljić. Erstens seien sie von allen Seiten von EU- und NATO-Staaten umgeben, zweitens sind Politik und Wirtschaft schon jetzt eng mit der EU verknüpft und drittens wandern nach wie vor viele Menschen legal in die EU aus.
Das hat nicht nur eine rapide Leerung der Region zur Folge, sondern vor allem eine starke Alterung der Bevölkerung, da vor allem junge Menschen migrieren. Sie sehen weder eine politische Perspektive in ihren Ländern, noch profitieren sie von den aktuellen sozioökonomischen Verbindungen zur EU. Der Westbalkan sei „Exporteur billiger Arbeitskräfte“ und wegen des großen Handelsdefizits fließe viel mehr Geld aus der Region in die EU, als dass die EU Entwicklungshilfe leistet, so Reljić. Die Folgen seien wirtschaftliche Unkosten, vor allem nach der Pandemie, zum anderen ein Anstieg populistischer Kräfte, der schon jetzt in Serbien, Montenegro und Bosnien Herzegowina zu verzeichnen ist.
Mehr populistische Parteien
Viola von Cramon berichtet, dass sie trotz dessen vor allem in diesen Staaten eine progressive Zivilgesellschaft kennengelernt habe. Auch im Kosovo, wobei hier in erster Linie Frankreich für den Stillstand vor Ort verantwortlich ist. Das hat mit den Vorurteilen sowohl der Bürger*innen als auch der Abgeordneten Frankreichs zu tun, die eine steigende Kriminalität in ihrem Land befürchten. Le Pen nutze dies geschickt für ihre innenpolitische Agenda und Macron spiele mit, da er nicht noch mehr Stimmen an die Rassemblement National verlieren möchte. Von Cramon fordert ein schnelles Handeln, solange Deutschland noch die Ratspräsidentschaft innehat. Die VISA-Liberalisierung für den Kosovo „wäre eigentlich das wichtigste Signal, auch um andere politische Prozesse in der Region voranzubringen.“
Auch eine strukturierte Investition muss laut von Cramon erfolgen, um den Menschen vor Ort eine Zukunft zu bieten. „Wir geben zwar Geld rein, aber steuern die Verteilung des Geldes nicht richtig, also fördern Korruption. Gleichzeitig saugen wir die Arbeitskräfte, die wir gebrauchen können, sehr systematisch ab und verweigern aber der jungen Generation durch eine Nicht-VISA-Liberalisierung den Zugang, sodass das eine Land nicht auf Augenhöhe ist. Und das wird auf Dauer genau zu dieser Frustration führen. Wir werden mehr populistische Parteien sehen. Die Auswanderungswelle wird anhalten.“ Der Recovery Fund reiche nicht aus und die Bevölkerung verliere das Vertrauen in die EU. Sie muss gerade Nordmazedonien und Albanien zeigen, dass nicht nur Scheinverhandlungen geführt werden. Zusätzlich sei die Selbstvermarktung der EU ein wichtiger Bereich, um ihre bisherige und zukünftige Unterstützung sichtbar zu machen. Darin seien die US-Amerikaner deutlich besser.
Liberaler Kapitalismus versagt
Mehr Investitionen seitens der EU sind außerdem sinnvoll, da China ein großes Interesse am Westbalkan als neue Quelle günstiger Arbeitskräfte und als Exportroute nach Westeuropa zeigt. „Das heißt, wir haben es mit einer Ausdehnung des politischen und Ökonomischen Modells, eines politischen Kapitalismus der chinesischen Art zu tun. Und das ist ein Gegenmodell zum liberalen Kapitalismus, den man besonders in Deutschland und anderswo jahrelang gepflegt hat. Deswegen ist der Balkan ja auch geopolitisch interessant.“, analysiert Reljić. Das Modell Westeuropas hat in Osteuropa und Südosteuropa nicht zu Wohlstand geführt. Die Region diene lediglich als „verlängerte Werkbank Deutschlands und Italiens“ ohne eigene Forschung und Entwicklung zu betreiben.
Wandel durch Kooperation
Tatsächlich gebe es von Cramon zufolge bereits einige Unternehmen, die in den Westbalkan investieren und damit auch zur Frauenemanzipation beitragen. „Oft ist es so, dass es für Frauen in internationalen Unternehmen eine Möglichkeit ist, sich zu emanzipieren, teilweise auch zum ersten Mal ein eigenes Konto zu unterhalten und auch eine andere Sozialstruktur in die oftmals sehr patriarchalen Familienstrukturen einzubringen.“ Von Cramon setzt daneben auf die Sensibilisierung und Begeisterung von jungen Menschen und schlägt vor, trilaterale Bündnisse der Zivilgesellschaft zwischen Deutschland, Frankreich und dem Westbalkan zu organisieren, um die Beziehung der Staaten untereinander und die öffentliche Wahrnehmung der Länder des Westbalkans zu verbessern.
Das vollständige Interview findet ihr hierunter: